Tag 09 (11.06.2023) - Tucson: Wenn die Fliege am Hintern die Wanderung verhindert
Herzlich Willkommen meine sehr verehrten Damen und Herren, zu einer neuen Folge der Serie Absurde Gründe, die zum Abbruch / Nichtantritt einer Wanderung führen können. Heute wird es ganz besonders wild, um nicht zu sagen unrealistisch, aber wir fangen besser mal ganz von vorne an. Heute wird ein Tag, an dem man sich besonders schön aufregen kann.
Der Wecker klingelt auch an diesem Morgen wieder um 04:30 Uhr - wie gesagt, das bleibt nicht den ganzen Urlaub so, ist für die Zeit in Südarizona aber einfach nicht zu vermeiden, wenn man im Juni wandern möchte. Auf die Wanderung heute morgen freue ich mich ganz besonders, es soll zu den wunderschönen Seven Falls im Bear Canyon gehen, der im Bereich des Sabino Canyons liegt. Hier war ich bisher noch nie, hab in letzter Zeit aber vemehrt begeisterte Berichte zu dieser Wanderung gelesen und bin dementsprechend gespannt. Von Zeit zu Zeit ist der Hike wohl relativ anstrengend, weil es diverse Wasserdurchquerungen gibt, im Frühling bei teilweise starker Strömung. Dann gibt es Zeiten, an denen der Bachlauf komplett ausgetrocknet ist - damit rechne ich heute ehrlich gesagt, ich hoffe aber, dass die Falls selbst noch ein wenig Wasser führen. Bei der Planung stand ich vor mehreren Fragen, unter anderem, welchen Trailhead wir ansteuern. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, nämlich einmal das Sabino Canyon Visitor Center und einmal die Bear Canyon Road. Letzteres ist ca. einen Kilometer pro Strecke kürzer, hat allerdings keinerlei Infrastruktur. Ich hätte aber gerne meinen Patch! Außerdem fährt ab dem Visitor der Shuttle zum eigentlichen Trailhead, aber erst ab 10 Uhr morgens - natürlich VIEL zu spät bei der Hitze. Immerhin hätten wir aber die Option, uns auf dem Rückweg fahren zu lassen, falls Marc dann am Ende seiner Kräfte angekommen sein sollte. Der Start am Visitor Center war also gesetzt. Nur... Wie regeln wir das zeitlich? Auch hier gibt es wieder mehrere Optionen. Früh starten ist klar, aber wie lange lassen wir uns Zeit? Grundsätzlich kann man am Ziel der Wanderung schwimmen, sollte es dort Wasser geben. Das wäre voll cool, andererseits würden wir damit die Wanderung zeitlich deutlich verlängern und den Rückweg in größter Hitze antreten. Das können wir ja immer noch spontan entscheiden... Außer den Seven Falls und dem Sonnenuntergang ist heute nicht viel geplant, wir haben also keinerlei Zeitdruck. Entscheiden wir uns gegen einen ausgedehnten Aufenthalt an den Falls haben wir immer noch den Pool.
So viel zur Theorie. Gehen wir mal zur Praxis über. Diese Praxis, in der ich gleichermaßen erstaunt und skeptisch bin, dass Marc bei einer so anstrengenden Wanderung bei dem Wetter überhaupt mit möchte.
Ich lade noch schnell ein paar neue Offline Karten runter, das habe ich nämlich verpeilt, fülle kaltes Wasser in die Trinkblase und bin dann quasi auch abfahrbereit. Vorsichtshalber ziehe ich mir mal meinen Bikini an und die Sportsachen drüber, man muss ja auf alles vorbereitet sein. Gestern Abend haben wir das Messer zum Brote schmieren ja im Auto vergessen, also nehmen wir nun abgezählte Scheiben Brot und Wurst mit runter, so, dass wir das gleich am Trailhead erledigen können.
Um 5 Uhr sitzen wir im Auto und treten die Fahrt zum Sabino Canyon an, die ungefähr 25 Minuten dauert. Es wird bereits hell um uns herum und die Wolkenformationen sehen irgendwie total unecht aus. Wie aus einem Computerspiel, dass nicht richtig geladen hat
Den Parkplatz des Visitor Centers erreichen wir quasi zeitgleich mit dem Sonnenaufgang um 05:40 Uhr. Was zur Hölle ist das?! Es ist mega voll und das schon um diese Zeit Bisher waren alle Ziele auf dieser Reise extrem ruhig, im Joshua Tree National Park hatten wir unsere Ruhe, im Anza Borrego Desert State Park hatten wir unsere Ruhe und im Organ Pipe Cactus National Monument waren wir die einzigen Besucher überhaupt, selbst über Nacht. Und jetzt DAS?! Den Schock müssen wir erst einmal verdauen. Ich befürchte aber, wir werden uns in den nächsten Wochen daran gewöhnen müssen, wenn wir auf die Südwest-Rennstrecke kommen Aber seht selbst! Ich wiederhole nochmal: 05:40 Uhr!
Den NPS Pass legen ich in die Windschutzscheibe, denn ansonsten müsste man hier Parkgebühren bezahlen, so ist es aber enthalten. Wir wechseln unsere Schuhe und wollen uns jetzt noch schnell die Pausenbrote schmieren. Ja wow. Wir stellen fest, dass die Soßen im Kühlschrank im Hotelzimmer liegen, dafür haben wir jetzt Messer Naja. Ich kenn das ja schon. Kein vernünftiges Essen im Urlaub! Wird dann halt eine trockene Angelegenheit.
Die Tatsache mit der fehlenden Soße ist bei Marc jetzt schon nicht auf so richtig viel Begeisterung gestoßen, das ging aber noch. Viel schlimmer ist, dass die Toiletten am Visitor Center erst um 7 Uhr öffnen - Der Magen meldet sich aber immer noch, liegt aber wohl auch an der Uhrzeit. Finde ich jetzt auch nicht so richtig gut, denn zumindest pinkeln könnte ich auch nochmal, ist aber nicht zu ändern. Wir können jetzt über eine Stunde hier warten oder wir laufen die zwei Kilometer über die Straße zum eigentlichen Trailhead und hoffen, dass es dort nochmal Restrooms gibt. Eine schnelle Recherche mit Google Maps stimmt mich optimistisch, in den Satelliten Aufnahmen sieht es ganz danach aus.
Wir laufen einfach mal guter Hoffnung los.
Wie gesagt, die ersten zwei Kilometer sind eher lästige Pflicht als schöne Wanderung. Es geht die meiste Zeit über die Asphalt Straße, die auch der Shuttle fahren würde, wenn er denn um die Zeit schon unterwegs wäre. Teilweise kann man etwas abkürzen indem man einen parallelen Sandweg läuftm, der teilweise durch hübsche Washes führt. Das probieren wir erst, stellen dann aber fest, dass wir deutlich langsamer voran kommen und teilweise eklige Spinnennetz-Fäden im Weg hängen, weil außer uns offenbar keine Sau die landschaftlich schönere Route wählt, sondern alle die schnellste
Zunächst aber gibt es diese Auswahl gar nicht und es geht einen normalen, gut ausgebauten Wanderweg entlang. Irgendwie ist es in der Ferne extrem dunstig, weshalb die Farben vom Sonnenaufgang nicht so wirklich rauskommen, aber irgendwie haben auch diese schummrigen Lichtverhältnisse ihren Reiz.
Marc stöhnt von der Sekunde an, in der uns die ersten Sonnenstrahlen berühren. Viel zu heiß, warm, mimimimimi. Äh. Wir haben grad Punkt 6 Uhr, bist du dir sicher, dass du eine 10 Meilen Wanderung mitlaufen möchtest?!
Irgendwann folgen wir dann dem schöneren Weg, weil wir nicht gerne über die Straße laufen. Aber wie gesagt, das ist ein ziemliches auf und ab, der Boden ist weich und tiefsandig und außerdem hat man ständig irgendwelche Fäden im Gesicht. Das nervt! Schön ist es hier allerdings, zumindest, wenn man sich das entspannt auf Fotos anschauen kann
Bei der erstbesten Gelegenheit wechseln wir wieder zurück auf die Straße, wo auch schon einige andere Gruppen unterwegs sind - wäre ja auch komisch wenn nicht, so voll, wie der Parkplatz schon war. Auffällig ist mal wieder die (nicht vorhandene) Ausrüstung und die Bekleidung der meisten "Wandernden". Viele sind schon in ihren Badesachen unterwegs, haben aber nichts drüber, außerdem sehen wir vermehrt Badelatschen und Flipflops. Die Jungs haben bestensfalls einen Turnbeutel dabei, die Mädels maximal eine 0,5 Liter Flasche Wasser in der Hand. Das kennt man ja bereits von unbedarften Touristen, die man immer mal wieder trifft, aber die meisten Leute hier wirken eher einheimisch. Naja, die werden wohl an die Temperaturen gewöhnt sein, viele kommen bestimmt auch nicht zum ersten mal hier her, aber das hier ist eine 14 km Wanderung mit über 300 Höhenmetern... Im Hochsommer. Naja, jeder wie er meint.
Auch an der Straße gibt es schöne Ausblicke.
Auch auf dem Asphalt geht es teilweise schon gut bergauf und ja, es ist schon erstaunlich warm für die frühe Uhrzeit. Marc ist schon jetzt nur am stöhnen und völlig fertig mit der Welt, das macht nicht unbedingt Hoffnung für den weiteren Verlauf der Wanderung. Für mich gibt es heute keinen Abbruch, die Seven Falls will ich unbedingt sehen und ich habe in den letzten Tagen genug Rücksicht genommen. Andererseits mache ich mir natürlich Sorgen um seine Gesundheit und will nicht, dass er unterwegs zusammenklappt.
Am Trailhead müssen wir noch einen Umweg von knapp 100 Meter laufen und stehen dann nach zwei Kilometern tatsächlich vor einem geöffneten Klo. Es ist so eine typische Trailhead Toilette, wie man sie überall findet. Ohne Spülung, ohne fließendes Wasser, aber absolut sauber, mit gut gefülltem Desinfektions-Spender und kompletter Rolle Klopapier. Ich gehe schnell zuerst und stelle nichts unangenehmes fest, wobei mir zwei kleine, gewöhnliche Fliegen auffallen, die halt durch das Häusschen summen.
Warum das wichtig ist?! Tja. Gute Frage.
Nach mir geht Marc auf Klo, ich habe mich grad auf der Bank davor niedergelassen, als er auch schon wieder raus kommt. Viel zu schnell! Die Aussage ist:
"Da sind Fliegen drin"
Ja, da sind Fliegen drin. Aber nur zwei Kleine. Passiert schonmal in der Natur. Und?
"Die fliegen mir von unten gegen den Hintern, das geht so nicht"
...
...
Okay, WAS BIN ICH HÖREND???
Ich stehe einfach nur da und starre ihn an. Vielleicht, ganz eventuell, verliere ich dann doch endlich mal die Fassung und frage ganz trocken einfach mal nach. Man muss ja wissen, was hier grad passiert. Formuliere ich das jetzt um, oder machen wir das mit O-Ton?! Ich glaube letzteres, das glaubt mir ja sonst niemand.
Ich frage also:
"Kackst du dir jetzt lieber in die Hose, als auf ein Klo zu gehen, in dem zwei Fliegen umher fliegen?"
Die Antwort ist genauso gefasst und trocken wie meine Frage:
"Ja."
Halt Stop. Das kann ja jetzt nicht sein. Ich kann ihn ja jetzt nicht zwingen hier auf Klo zu gehen, aber wir können doch so jetzt nicht noch 12 km wandern, bei immer größer werdender Hitze? Da kommt auch kein Notfall Klo mehr, wenn wir einmal auf dem Trail sind. Ich sehe meine Seven Falls in Gefahr, das geht so nicht! Mir fällt nur eine Lösung ein:
"Ähm. Willst du vielleicht lieber zurück zum Hotel fahren und da in Ruhe auf Klo gehen?"
"Ja"
Okay. Wäre das auch geklärt. Ich gebe Marc den Autoschlüssel, wir vereinbaren eine ungefähre Zeit, in der er mich nach der Wanderung wieder am Visitor Center abholen soll und wir beide gehen unserer Wege. Ich wünsche ihm noch viel Erfolg für die zwei Kilometer zum Auto zurück. Vielleicht hat ja auch das Visitor Center Klo auf, bis er zurück ist Diese Situation ist definitiv mein Highlight der bisherigen Reise. Ich schwanke irgendwo zwischen Belustigung und Fassungslosigkeit. Egal, Seven Falls, here I come!