Tag 4 (11.08.2020) - Der Gewaltmarsch auf den Rysy Teil 2
Zurück bei Steve ist der auch schon wieder abmarschbereit. Die Hütte erreicht zu haben ist zwar immerhin etwas, aber bis zum Gipfel ist es doch noch weiter als ich erwartet hatte - nochmal 400 Höhenmeter um genau zu sein. Natürlich habe ich an dieser Stelle keineswegs die Intention aufzugeben, ich bin bis hier gekommen, dann will ich auch ganz hoch, das ist klar und das weiß jeder, der mich kennt. Trotzdem entfährt mir ein trotziges "Boah, ich kann nicht mehr!" beim Anblick auf den weiteren Weg.
Meine Damen und Herren, es ist so weit, die Situation eskaliert zum ersten mal!
Steve: "Dann musst du halt hier warten!"
Ich: "Das ist aber nett!"
Steve: "Ja, es gibt auch Leute, mit denen ich unten bleiben würde"
Ich: "Mir ist schon klar, das ich zu denen nicht gehöre"
Steve: "Stimmt"
Meine Antwort muss ich euch leider vorenthalten, da die Freundschaft noch besteht würde das hier zu weit gehen! Aber sie hat definitiv gesessen!
Zur Erklärung: Steve hatte seine letzte Freundin vor 7 Jahren und kommt gefühlt alle zwei Wochen mit einer neuen an, die er toll findet und mit der er mir die Ohren volljammert. Für die würde er natürlich alle warten. Für mich nicht. Aber das ist ja egal, denn ich will ja gar nicht warten
Nachdem wir uns also wieder alle abgeregt haben geht die fröhliche Klettertour also in die nächste Runde. Begrüßt werden wir auf dem finalen Anstieg mit folgendem Schild:
Wie jetzt? Dann muss ich meine High Heels wohl doch noch ausziehen, dabei bin ich damit so weit gekommen
Ein Blick zurück auf die Hütte
Und während die Aussicht immer besser und besser wird, werden unsere Pausen immer häufiger. Ich bin zwar komplett am Arsch, allerdings stellt es mich zufrieden, das auch Steve ENDLICH Schwäche an den Tag legt und kämpfen muss. Gegen Ende wird es teilweise grenzwertig steil... Hoch ist kein Problem, aber an manchen Stellen zweifle ich ernsthaft daran, das ich wieder runter kommen. Aber Probleme vom Zukunfts-Ich und so!
Nach exakt 5 Stunden und 7 Minuten (Anstatt nach 4:25) erreichen wir endlich den verdammten Gipfel vom verdammten Rysy. Während ich mich direkt auf den schmalen Grat setze klettert Steve noch drei Meter höher zum eigentlichen Gipfel. Ich habe schon an meiner Stelle ein Bein links und ein Bein rechts vom Berg und nach oben hin wird es noch schmaler - dafür zittern meine Beine zu sehr und ich lasse es sein. Stattdessen beschließe ich, das 2500 Meter anstatt 1503 Meter Gipfel genug für mich sind, um es als geschafft durchgehen zu lassen.
Da kommen wir her! (Ja, das da unter meinen Füßen ist der "Weg").
Die Aussicht von hier über die Hohe Tatra ist wirklich beeindruckend. Dabei fällt vor allem aber auch auf, wie klein dieses Gebirge von der Grundfläche her eigentlich ist. Rund herum ist überall Flachland und mittendrin wurden ein paar mittlere 2000er hingekleckert.
Allzu lange halten wir uns hier oben nicht auf. Meine Beine sind zittrig, es ist kühl hier oben und der ewig lange Rückweg liegt beängstigend vor uns. Bei der Aussicht kann ich mich nicht entspannen und ewig verweilen, es ist schon viel zu spät und im dunkeln möchte ich hier nicht unterwegs sein, daher beschränkt sich der Gipfelaufenthalt auf 10-15 Minuten.
Der Weg nach unten geht besser als erwartet. Bei diesem Steigungsgrat traue ich meinen übermüdeten Beinen aber nicht mehr über den Weg und bewege mich das erste Stück mehr oder weniger auf meinem Hintern nach unten.
Der Rückweg bis zur Hütte ist relativ schnell geschafft und das allersteilste Stück liegt damit hinter uns. Wir atmen auf, auch wenn es noch ein langer, langer Weg ist. Steve freut sich, das es in der Hütte noch etwas zu essen gibt und gönnt sich eine Bockwurst mit Pommes - ich könnte ja jetzt nicht einmal ans Essen denken. Für mich ist das hier Sport und der Weg zurück ist noch weit, wenn ich mich jetzt mit Pommes vollstopfen würde, würde ich danach alles wollen, aber bestimmt keine 4 Stunden mehr laufen. Davon abgesehen habe ich bei großer Anstrengung eh nie Hunger, also schaue ich nur beim essen zu. Es ist bereits so gut wie nichts mehr los an der Hütte, fast alle anderen Wanderer sind längst auf dem Weg nach unten, nur ein paar Abenteurer sind noch hier, die aber sichtlich hier übernachten wollen.
Auch der weitere Verlauf bis zu den Ketten und Leitern ist sehr steil, langsam merke ich den Abstieg deutlich in meinen Knien. Zufrieden muss ich allerdings feststellen, das sich das Blatt langsam wendet. Bergauf mag Steve fitter sein, aber bergab ist meine Disziplin und jetzt bin ich es, die in regelmäßigen Abständen wartet.
Im weiteren Verlauf mache ich so gut wie keine Bilder mehr. Wir sind die letzten Wanderer auf dem Trail und der Rückweg zieht sich wie Kaugummi. Keine Ahnung wie oft ich laut gefragt habe, ob wir auf dem Hinweg wirklich SO weit gelaufen sind, man braucht sicher beide Hände um das abzuzählen. Noch nie kam mir der Rückweg so ungleich länger vor als der Hinweg und noch nie habe ich bergab so viel Pause gemacht. Auch meine Füße schmerzen unbarmherzig bei jedem Schritt auf den unebenen Steinen, aber Steve ist nun völlig am Ende und muss sich alle 15 Minuten setzen. Ich, die runter immer doppelt so schnell ist wie rauf, kann das nicht verstehen, aber warte gerne mit - Ja, vielleicht auch ein klein wenig schadenfroh über die ausgleichende Gerechtigkeit.
Die Dämmerung setzt schon ein als wir zurück im Waldabschnitt sind. Jetzt, ohne die vielen Leute von heute morgen, fallen uns die "Rucksäcke" auf, die hier rumliegen. So wird die Hütte oben versorgt, man kann sich freiwillig einen davon nehmen und hochbringen. Im Gegenzug bekommt man oben einen Tee, was mir lächerlich wenig vorkommt als Gegenleistung, aber immerhin bleibt man fit. Wir scherzen darüber, wie viel Geld man uns bieten müsste um JETZT sofort umzukehren und einen dieser Taschen nach oben zu bringen. Wir beschließen, das 1000€ wohl zu wenig wären, aber ab 10.000 könnte man darüber reden. Völlig überflüssig, aber ich wette jeder kennt solche sinnlosen Gespräche und Gedanken, wenn man versucht sich abzulenken.
Und es zieeeeeeht sich...
Die letzten Meter über die Straße bis zum Parkplatz sind einfach nur noch eine Qual für die Füße, jeder Schritt fühlt sich an als würden die Sohlen Feuer fangen. Dann, endlich, nach 10 Stunden und 8 Minuten lassen wir uns auf den Boden hinter dem Kofferraum fallen und reißen uns die Schuhe von den Füßen - Welch Wohltat.
So sitzen wir hier kurz, beinahe unfähig uns zu bewegen, als Steve mir eröffnet, das er sich gerne bei mir entschuldigen würde. Er habe die Wanderung und die Steigung wohl offensichtlich sehr unterschätzt. Na bitte. Mehr wollte ich in dem Moment gar nicht hören und alles ist gut. Ja, es stimmt, er hat es unterschätzt und es war unvernünftig, aber jetzt und hier haben wir es geschafft und sind vor allem stolz auf unsere Leistung und das ist ein gutes Gefühl.
Weniger gut ist, das das Auto keine Lust mehr hat anzuspringen und erst beim 3. Versuch reagiert - scheinbar grundlos. Gott sei dank geht es doch noch, jetzt hier nicht wegzukommen wäre der absolute Supergau gewesen Steve fährt vor zum Kassenautomat und lässt den Motor vorsichtshalber laufen, während ist barfuß aussteige und bezahle... mit dem letzten Bargeld das wir noch haben, auf den Cent genau, da hier keine Karte genommen wird. Wieder: Schwein gehabt!!!
Bis zu unserer Ferienwohnung für diese Nacht sind es nur ca. 20 Minuten bergab. Wir kommen im stockdunklen an und rufen die Vermieterin an, die zum Glück perfektes englisch spricht und auch nach 5 Minuten bereits vorgefahren kommt und uns die Wohnung zeigt. Nichts besonderes, die Bettwäsche ist denkwürdig und wir haben insgesamt 7 Betten im Zimmer Es ist sauber und sehr günstig mit 30€ für eine Nacht, was will man also mehr. Nach einer schnellen Dusche liegen wir auch sofort im Bett, Hunger habe ich immer noch keinen! Was für ein Tag, der Muskelkater wird unbarmherzig zuschlagen, ich spüre ihn schon jetzt!